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STUDIO! Ausgabe 1/2024

Coverstory: Die Welle der Veränderung reiten

Gesellschaft, Wirtschaft, technologischer Fortschritt: Unsere Welt wird immer komplexer. Wie wir die Zukunft trotzdem aktiv gestalten können, lesen Sie hier.

Text: Maya McKechneay

Haaaallooo! Sieht hier irgendjemand eine große gesellschaftliche Transformation? – Nein? Nein. Natürlich nicht. Wie könnten wir auch, während wir uns selber mittendrin befinden? Was wir im Hier und Jetzt wahrnehmen können, sind allenfalls Einzelereignisse. Alles, was um uns herum passiert, sowie das, was wir aus den Nachrichten erfahren. Doch die wirklich großen gesellschaftlichen Transformationsprozesse haben es an sich, dass man sie erst rückblickend erkennt. Denn erst der neu erreichte Zustand, die wesentliche Änderung, macht den Wandel davor zur echten Transformation.

Ein Beispiel gefällig? Hätten Sie einen Bauernsohn Anfang des 19. Jahrhunderts gefragt, warum er in die große Stadt zieht, hätte er geantwortet: »Ich suche Arbeit in der Fabrik, denn die Feldarbeit ernährt uns im Moment nicht.« Dass seine Entscheidung Teil der großen Transformation der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft war, die mit ausgedehnten Migrationsbewegungen vom Land in die Städte einherging, sehen erst wir aus heutiger Perspektive. Und auch der Begriff »industrielle Revolution« etablierte sich erst Jahrzehnte später.

Innovation und gesellschaftliche Transformation

Wie in unserem Beispiel der industriellen Revolution, die auch durch die Erfindung der Dampfmaschine bedingt war, sind oft technische Innovationen Treiber der Transformation. Hier stellt sich die Frage: Welche Transformation findet heute um uns herum statt? Und wie werden spätere Generationen sie nennen? – Wir können es bestenfalls ahnen und behelfen uns mit Vokabeln wie »Nachhaltige Transformation«, »Digitale Transformation« oder »KITransformation«, um die gegenwärtigen Veränderungen zu beschreiben. Und die geschehen, wie die Zeitleiste unserer Fokusstrecke zeigt, in immer rasanterem Tempo. 1975 wurde der erste tragbare Computer von IBM auf den Markt gebracht, 1983 das erste Mobiltelefon und wiederum zehn Jahre später startete das öffentliche World Wide Web.

© Shutterstock/Egger & Lerch

Seither sind die Entwicklungsschritte wesentlich kürzer geworden. Dauerte es noch über zehn Jahre, bis das Internet wirklich von allen angenommen wurde, breitete sich KI wie ein Lauffeuer aus. Im November 2022 ging ChatGPT an den Start. Im Jänner 2024 hatte die sprachbasierte KI-Anwendung bereits über 100 Millionen User. »Beschleunigung« lautet das Stichwort – und trifft leider auch auf den Klimawandel zu. Denn auch der schreitet immer schneller voran. Forschende nennen unser Erdzeitalter das Zeitalter des »Anthropozän« – das erste, das maßgeblich vom Menschen geprägt ist. Nachhaltige Lösungen und eine aktive Transformation zur nachhaltigen Gesellschaft sind gefragt. Doch wie kann die gelingen?

Neuerungen: Vom WWW zur KI

Um Change-Prozesse in Unternehmen, aber auch in der Gesellschaft umzusetzen, brauche es die Bereitschaft, Bestehendes neu zu denken, und Freude am Experiment, erklärt Ralf Wallner. Als IT-Experte der ersten Stunde begleitet er schon seit 1991 technische Entwicklungen und den Wandel, den sie auslösen: »Ich kann mich noch gut an die Diskussionen und Vorbehalte von damals erinnern, was die Nutzung des Internets betrifft«, sagt er. »Unternehmen befürchteten, dass niemand mehr arbeiten würde, wenn man jedem einen eigenen Zugang zum Internet geben würde. Ganz am Anfang war es deshalb üblich, dass nur eine Person im Unternehmen – vorwiegend in der Presseabteilung – einen Internetzugang bekam.« Eine heute unvorstellbare Denkweise.

»Dieses Beispiel ist plakativ, aber man kann es auf die aktuelle Situation umlegen«, fährt Wallner, der heute Unternehmen bei technischen Change-Prozessen unterstützt, fort. Denn »neue Technologien bringen immer Ängste mit sich. Heute fragen mich Unternehmen: Wie können KI-Tools sicher und produktiv eingesetzt werden? Können wir unseren Mitarbeitenden bei der Verwendung dieser Tools vertrauen, sodass sie zum Wohl des Unternehmens eingesetzt werden?« Wenn es eine Strategie für den Einsatz von KI im Unternehmen gibt und die Unternehmenskultur »fit« sei, gibt Wallner dann zurück, sei eine gute Basis dafür gegeben. Um digitale Tools wie auch KI-Anwendungen nachhaltig in Unternehmen zu etablieren, empfiehlt er, sie im Rahmen von ausgewählten Geschäftsfällen zu pilotieren und anschließend gemeinsam zu diskutieren, ob sie einen Mehrwert bringen. Gerade weil das Thema KI momentan »extrem gehypt« werde, sei es wichtig, die Bodenhaftung zu behalten: »Man probiert etwas aus, zieht Learnings daraus, optimiert weiter und schaut, ob man es beibehalten will.«

© Shutterstock/Egger & Lerch

Digitaler Reifegrad

Wenn es um den digitalen Wandel gehe, seien Unternehmen übrigens in ganz unterschiedlichem Ausmaß bereit, Neues zu wagen. »Forschungs- und Bildungseinrichtungen sind zum Beispiel oft besonders daran interessiert, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln, wie natürlich auch Unternehmen im Technologiebereich«, erklärt Unternehmensberater Wallner. Neben den Vorreitern gebe es aber auch viele Unternehmen mit »mittlerem oder niedrigem« digitalen Reifegrad. Woran man die erkenne? »Ein niedriger Reifegrad: Die wichtigsten Geschäftsprozesse werden rudimentär mit einfachen, oft veralteten IT-Tools unterstützt. Mittlerer: Adäquate Software-Tools werden auf breiter Basis eingesetzt und es gibt digitale Serviceangebote für Kunden oder Mitarbeitende. Und ein hoher Reifegrad: Möglichkeiten digitaler Technologien denkt das Unternehmen im Kern immer mit. Die Verantwortlichen fragen sich ständig: Wo könnten wir die Arbeit noch erleichtern? Wo könnten wir etwas optimieren? Digital reife Unternehmen denken nicht in Einzelfällen, sondern in Systemen.«

© Shutterstock/Egger & Lerch

Stichwort »Unternehmenskultur«

Welche Eigenschaften brauchen Mitarbeitende und Teams, um gestärkt aus betrieblichen Veränderungsprozessen hervorzugehen?

Ralf Wallner

Ralf Wallner, Alumnus und Lektor an der FHWien der WKW, begleitet Transformationsprozesse mit Schwerpunkt IT und HR im Auftrag des Beratungsunternehmens Deloitte.

Mitarbeitende und Teams brauchen:

  • ein offenes Mindset
  • Fähigkeit, kritisch zu reflektieren
  • Freude am Experiment

Markus Plischke

Markus Plischke ist seit über 20 Jahren als Berater, Trainer und Coach tätig, u. a. für Ernst & Young Consulting und die Beratergruppe Neuwaldegg. Er ist Trainer und Berater des Hernstein Instituts für Management und Leadership und aktiv im Netzwerk Achtsame Wirtschaft.

Mitarbeitende und Teams brauchen:

  • Offenheit
  • Lernbereitschaft
  • Dialogbereitschaft

 

Ann-Christine Schulz

Ann-Christine Schulz ist Projektleiterin des von der Stadt Wien (MA 23) geförderten Projekts »Organisationale
Ambidextrie in KMU« an der FHWien der WKW.

Mitarbeitende und Teams brauchen:

  • Flexibilität
  • Kreativität
  • Fehlerkultur

Intelligente Tools brauchen kritische Geister

Wer Ralf Wallner zuhört, erfährt, dass aktive Wandlungsprozesse in Unternehmen oft von Vorbehalten begleitet werden. Bei KI ist da beispielsweise die Angst, von den neuen technischen Tools ersetzt zu werden und den Arbeitsplatz zu verlieren. Hier versucht Wallner zu beruhigen: »Vor über zehn Jahren gab es bereits eine Liste jener Berufe, die in zehn Jahren – also heute – aufgrund des technischen Fortschritts nicht mehr existieren würden. Doch das ist so nicht passiert – die Jobs haben sich verändert und mit ihnen die Anforderungen an die Mitarbeitenden; deren Jobtitel lauten jetzt anders, doch sie sind noch da. Der Wandel findet statt und Unternehmen und Mitarbeitende sind dringend aufgerufen, diesen aktiv mitzugestalten.«

Intelligente Tools, ergänzt der Berater, könnten ohne kritische Geister, die sie bedienen, derzeit gar nicht sinnvoll funktionieren. Das Optimum werde aktuell in der Kombination menschlicher Expertise mit Ergebnissen von KI-Tools gesehen. Erst durch eine Fachkraft, die den Output überprüfe, hätten etwa die Ergebnisse der generativen KI ChatGPT praktischen Wert. »Der Mensch nutzt verschiedene Werkzeuge und steht dabei zukünftig vor der Herausforderung, verantwortungsvoll damit umzugehen und sich seine kritische Reflexionsfähigkeit zu erhalten.« Nur so könne echter Fortschritt gelingen.

Transformation in großen und kleinen Strukturen

Wandel ist angesichts der äußeren Veränderungen unumgänglich. In großen wie in kleinen Unternehmen. Dabei seien die großen Player bei Transformationsprozessen oft schwerer in Bewegung zu bringen, erzählt Unternehmensberater Markus Plischke. »Aber gerade deshalb sind solche Aufträge für mich als Berater besonders spannend und oft auch langfristig angelegt.« In kleinen Unternehmen könne man dagegen schneller etwas erreichen. »In mittelständischen Unternehmen trete ich als Berater oft direkt in Kontakt mit den Entscheidungsträgern, die im Idealfall auch die Mitarbeiter einbeziehen. Da kann viel gelingen.« Ein Sonderfall innerhalb der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) seien familiengeführte Betriebe: »Dort denkt man besonders langfristig, weil über mehrere Generationen hinweg.«

Beim Thema Transformation besonders intensiv kleinere Betriebe zu betrachten, macht auch deshalb Sinn, weil in Österreich 90 Prozent aller Beschäftigten in KMU tätig sind. Entsprechend widmete sich ein Forscherteam der FHWien der WKW der Frage, wie KMU des produzierenden Sektors auf Transformationsprozesse reagieren. Ann-Christine Schulz, eine der beiden federführenden Forschenden, ergänzt Markus Plischkes Wahrnehmung: »Gerade KMU sind besonders stark von der digitalen Transformation betroffen. Doch anders als Großunternehmen haben sie limitierte Mitarbeiterressourcen und können beispielsweise nicht von heute auf morgen eine Abteilung für Forschung und Entwicklung aufstellen. Wenn sie Veränderung anstoßen wollen, brauchen sie eine besondere Form der Führung und Entscheidungsfindung.«

Dass auch KMU immer rascher auf den gesellschaftlichen und technologischen Wandel reagieren, hätten sie und ihr Kollege Patrick Rupprecht auch daran gemerkt, dass unternehmensinterne Strategien heute in wesentlich kürzeren Intervallen evaluiert würden als noch vor zehn Jahren: »Die meisten der befragten Unternehmen evaluieren inzwischen nicht mehr jährlich, sondern quartalsweise. Dieses Tempo hat uns selbst überrascht.«

Flache Hierarchien statt Bottleneck

Wie aber können Führungskräfte nachhaltige Transformationsprozesse im eigenen Unternehmen anstoßen? Hier kann Markus Plischke Auskunft geben. Als Unternehmensberater begleitet er Change-Prozesse und gibt sein Wissen als Trainer des Hernstein Instituts für Management und Leadership weiter. Markus Plischke bringt einen zusätzlichen wesentlichen Begriff in den Gedankengang ein: Komplexität: »Unternehmen haben es heute mit ständig neuen Technologien und neuen Wettbewerbern zu tun, die für ein Produkt oder eine Dienstleistung infrage kommen – entsprechend wird die Führung und Steuerung von Organisationen immer anspruchsvoller«, sagt er. Darum sei es notwendig, die Unternehmensstrukturen möglichst agil zu organisieren, um angemessen auf diese Komplexität zu reagieren. »Mit klassisch hierarchischen Strukturen ist man nicht mehr wendig genug.«

Warum genau sind aber hierarchisch organisierte Unternehmen weniger agil? »Wir leben in Zeiten der ständigen Veränderung, und es gilt extrem viele Faktoren zu berücksichtigen. Dieser Komplexität wird man nicht gerecht, wenn eine Führungskraft, über deren Tisch alle Entscheidungen gehen, der ›Bottleneck‹ ist. Das dauert zu lange. Und es kann auch passieren, dass diese Person die falschen Entscheidungen trifft, weil das Wissen ja in vielen Fällen bei denen liegt, die im Alltag konkret mit diesen Themen zu tun haben, eventuell aber ›niedriger‹ in der Unternehmenshierarchie stehen. Bei vielen Kunden ist deshalb der Wunsch da, in Richtung einer verteilten, kollegialen Führung zu gehen.«

Die Welle aktiv reiten

Bei allen Maßnahmen sei es zudem »wesentlich, den Transformationsprozess auch aus einer gewünschten Zukunft heraus zu denken, einer Zukunft, die man mitgestaltet.« Hier könne man motivierende, sinnhafte Ziele in den Vordergrund rücken – schließlich trage eine Belegschaft Maßnahmen gerade dann besonders aktiv mit, wenn sie deren Sinnhaftigkeit einsehe und einen befriedigenden persönlichen »Purpose« daraus ableiten könne, etwa soziale Verantwortung oder Nachhaltigkeit. Plischke erzählt von einem Umstrukturierungsprozess, den er für einen Kunden – die Telefonseelsorge eines deutschen Bundeslandes – begleitete. »Ich war erstaunt, wie schnell hier wirklich große Veränderungen, etwa betreffend ein neues Rollenverständnis der Mitarbeiter, umgesetzt wurden. Meine Hypothese ist, dass die Beteiligten einen Sinn hinter ihrem Tun gesehen haben. Sie wollten besser werden. ›Leben kann gelingen‹ war damals das Leitbild, das wir entworfen haben. Und darum geht es ja unterm Strich. Die Beteiligten wollten damals von mir wissen, was sie von der Privatwirtschaft lernen könnten. Und ich habe gesagt: Die Frage sollte vielmehr lauten: Was lernt die Privatwirtschaft von euch?«

Mitbestimmung, das Gefühl, ins Handeln zu kommen, Zukunft aktiv mitgestalten zu können: Das sind wesentliche Voraussetzungen, um technische und gesellschaftliche Transformation als Chance und nicht als Bedrohung zu erleben. Markus Plischke entwirft in diesem Zusammenhang das Bild einer Welle: »Die Umwelten verändern sich immer schneller, die Welt wird von Tag zu Tag komplexer. Diese Komplexität kann man nicht mehr kontrollieren und beherrschen. Man kann sie aber reiten wie eine Welle.« Lassen wir dieses Bild doch auf die Eingangsüberlegung dieses Textes prallen: Wir können die großen, aktuellen Transformationsprozesse unserer Gesellschaft vielleicht nicht klar erkennen, doch wir können entscheiden, wie wir ihnen begegnen. Wer hat wohl mehr Weitsicht und Überblick: derjenige, der sich ängstlich mitspülen lässt, oder jemand, der selbstbewusst oben steht und die Welle reitet?

Forschungsprojekt im Fokus 1: TransformS

Viele Unternehmen wollen sich ökologisch und sozial nachhaltiger ausrichten. Die »Veränderungskompetenzen«, die es dafür braucht, hat ein Forschungsteam des IBES untersucht.

Drei Jahre lang erforschte das Stadt Wien Kompetenzteam Change for Corporate Sustainability (TransformS) die »Dynamic Capabilities for Sustainability«, deutsch: strategische Veränderungskompetenzen für Nachhaltigkeit. »Der Begriff fragt danach, inwiefern Unternehmen die Fähigkeit besitzen, Veränderungserfordernisse zu erkennen und Transformationen auch tatsächlich umzusetzen, sei es durch Produktinnovationen, neue Geschäftsmodelle oder einen Wandel in der Unternehmenskultur«, erklärt Daniela Ortiz Avram, Head des Institute for Business Ethics and Sustainable Strategy (IBES) der FHWien der WKW, die Leiterin des im Februar 2024 abgeschlossenen Projekts.

Um mehr darüber zu erfahren, analysierten die Forschenden zunächst 86 einschlägige Fachartikel. Die daraus entwickelte vierteilige Typologie ist bereits publiziert und erlaubt es Unternehmen, festzustellen, wie gut sie sich an Nachhaltigkeitsanforderungen anpassen können.

Veränderung braucht Ressourcen

Daneben begab sich Ortiz Avrams Team (bestehend aus Martine Andraos und Katharina Salomon) »ins Feld«: Interviews mit 41 Führungskräften aus neun österreichischen Unternehmen (u. a. Post, Lenzing, Verbund) und Workshops in drei ausgewählten Betrieben förderten wertvolle Erkenntnisse zutage. Ein zentrales Learning fasst die Studienleiterin so zusammen: »Erfolgreiche Nachhaltigkeitsprojekte müssen vom Top-Management kommunikativ begleitet werden. Es nützt wenig, wenn Abteilungen das Thema bottom-up angehen, die Geschäftsführung aber keine klare Vision formuliert und kaum Ressourcen – Finanzmittel, Weiterbildung – freigibt.«

»AgentInnen« des Wandels

Flankierend zur Forschung bot das IBES einen extrakurrikularen Kurs für angehende »Sustainability Change Agents« an. In der einsemestrigen Zusatzausbildung erwarben insgesamt 30 FH- Studierende jene Kompetenzen, die sie beim Adressieren von Nachhaltigkeitsherausforderungen unterstützen. Dazu gehört »Values Thinking«, erklärt Daniela Ortiz Avram: »Change Agents sollten u. a. in der Lage sein, unterschiedliche Wertvorstellungen in einer Gruppe zu erkennen und in den Problemlösungsprozess zu integrieren.« Neben systemischem Verständnis, strategischen Fähigkeiten, »Future Thinking« und sozialer Kompetenz beschäftigten die Studierenden sich auch mit ihrer Resilienz. Denn Veränderungen stoßen oft (auch) auf Widerstände in der Belegschaft. »Um wirklich an die Wurzeln zu gehen, brauchen Change Agents einen langen Atem«, so Ortiz Avram. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden in die zukünftigen Curricula der FHWien der WKW einfließen.

Forschungsprojekt im Fokus 2: Organisationale Ambidextrie

Warum Führungskräfte beide Hände brauchen, um ihr Unternehmen erfolgreich in die Zukunft zu geleiten.

Eine Hand liegt schützend über dem Bewährten, während sich die zweite neugierig Richtung Zukunft reckt. Nichts anderes bedeutet die komplizierte Vokabel »Ambidextrie« oder zu Deutsch »Beidhändigkeit«. Umgelegt auf Unternehmen meint dieses Gedankenbild: Um mit den aktuellen technischen und gesellschaftlichen Umwälzungen Schritt halten zu können, sollten Unternehmen in der Lage sein, bestehende Kompetenzen und Ressourcen bestmöglich zu nützen, um das vorhandene Kerngeschäft weiterzuführen (Exploitation), während sie zugleich Lernprozesse antreiben, die neue Skills und neues Wissen erschließen (Exploration).

Mehr als ein Modewort

Kaum ein Managementseminar, das aktuell ohne dieses Konzept auskommt. Doch wie steht es mit der Umsetzung in der Praxis? Das haben die FHWien-ForscherInnen Ann-Christine Schulz und Patrick Rupprecht kürzlich in einer Studie untersucht. Sie wollten wissen, inwieweit es KMU, also kleinen und mittelständischen Unternehmen, in Österreich aktuell schon gelingt, diese Balance zwischen Effizienz und Innovation zu halten. Dazu schickten sie einen Fragebogen an GeschäftsführerInnen des produzierenden Gewerbes und kamen zu folgenden Ergebnissen:

FHWien der WKW
  • Im Durchschnitt gelingt es vielen österreichischen KMU, die Prozesse »Exploration« und »Exploitation« in ihrer Organisation zu fördern und auszubalancieren – eine wesentliche Voraussetzung für nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit.
  • Viele etablierte digitale Technologien wie Social Media oder Cloud Computing werden bereits genutzt. Komplexere digitale Technologien wie KI oder Augmented Reality kommen dagegen in den KMU noch vergleichsweise selten zur Anwendung.
  • Wenn es darum geht, diese Technologien einzusetzen, um Prozesse effizienter zu gestalten oder Innovationen voranzutreiben, besteht noch Nachholbedarf.
  • Obwohl KMU vielerorts eine mittlere oder hohe Ausprägung ihrer digitalen Orientierung und Fähigkeiten aufweisen, besitzen bislang nur wenige eine formale Digitalisierungsstrategie oder gar Abteilungen, die sich dezidiert mit »Digitalisierung« oder »radikalen Innovationen« befassen.

Resümee: Etablierten KMU raten die StudienautorInnen, sich weiterhin aktiv mit neuen Technologien auseinanderzusetzen, das Thema Digitalisierung strategisch anzugehen und mithilfe geeigneter organisatorischer Strukturen die Fähigkeiten zur »Exploration « und »Exploitation« auszubauen. So können sie die Potenziale der digitalen Transformation optimal nutzen.

»Ich will Hüte machen!«

Eine Bauchentscheidung traf Klaus Mühlbauer, als er auf ein Produkt setzte, das alle totgesagt hatten – und es laufstegtauglich machte. Nicht die erste Transformation in der Geschichte seines Familienbetriebs, wie er erzählt.

Text: Maya McKechneay

Wer in Wien lebt, kennt den Schwedenplatz, einen quirligen Verkehrsknotenpunkt am Donaukanal. Was hingegen wenige wissen, ist, dass sich hinter einer der Fassaden dort Wiens größte Hutmanufaktur befindet. Hier wird die Ware von Mühlbauer zugeschnitten, von Hand gefalzt, gebügelt und gedämpft. Darunter seit Kurzem viele urbane, hippe Modelle: Kapuzenschals, wie sie auf Instagram zu sehen sind, Kappen, Beanies, Berets oder lässig sitzende Scrunch-Hüte, ein Mühlbauermodell, das auch Brad Pitt gerne trägt. Was wohl Julianna Mühlbauer, die Unternehmensgründerin, zum neuen Look sagen würde?

© Magdalena Lepka

Filialbetrieb und Wirtschaftswunder

»Meine Urgroßmutter war eine talentierte Modistin und durchaus mutig«, erzählt Klaus Mühlbauer. »Obwohl auch ihr Mann gelernter Hutmacher war, war sie es, die 1903 den ersten Mühlbauer Hutmodensalon in Floridsdorf eröffnete.« Seither hat das Unternehmen zahlreiche Transformationen durchlaufen. Vom Einzellokal mit Maßfertigung wuchs es in den 1920er-Jahren zum Filialbetrieb – aus praktischen Gründen: »Meine Urgroßmutter, die im Ersten Weltkrieg ihren Mann verloren hatte, wollte allen drei Söhnen ein eigenes Hutgeschäft übergeben.«

Klaus Mühlbauers Großvater, Robert Mühlbauer, hat das gesamte Geschäft schließlich ab den frühen Dreißigerjahren alleine weitergeführt, bis in die Fünfziger- und Sechzigerjahre: »Das Wirtschaftswunder muss unglaublich gewesen sein! Lang vor der Zeit des aktiven Marketings konnte man mit Kopfbedeckungen vermögend werden. Man hat nur dafür sorgen müssen, dass das Produkt im Regal liegt, und schon war es verkauft.«

© Magdalena Lepka

Harte Zeit für Hüte

So rosig ging es allerdings nicht weiter: In den späten Sechzigerjahren übernahmen Mühlbauers Eltern das Geschäft und mussten erneut umdenken, denn: »Der Hut ist über einen Zeitraum von einigen Jahren fast komplett aus dem Stadtbild verschwunden.« Was also tun? Um mit der Entwicklung der Mode Schritt zu halten, wandelten die Eltern den Filialbetrieb mit erstklassigen Standorten in einen Bekleidungs-Einzelhandel um und verkauften Jeans, T-Shirts, aber auch Trachten. Durchaus erfolgreich … bis die Ära der Diskonter anbrach. Mit Zara und H&M konnte man nun weder preislich noch von der Auswahl her mithalten. Als der Vater Klaus Mühlbauer und seinen Geschwistern im Jahr 2000 signalisierte, dass er sich zurückziehen wolle, war wieder Transformation gefragt.

Klaus Mühlbauer, der nach Matura und Hutmacherlehre Wirtschaft studiert hatte, wollte es versuchen. Und obwohl es naheliegender gewesen wäre, beim Bekleidungshandel zu bleiben und nur am Sortiment zu schrauben, habe er gespürt: »Ich will Hüte machen!« Diese Bauchentscheidung sei absolut »last minute« gefallen, denn: »Es gab gerade noch die Werkstätte mit zwei oder drei Leuten, die damals fast nur noch Änderungen ausgeführt haben.« Doch Klaus Mühlbauer suchte HandwerkerInnen und ließ – ganz gegen den Trend – wieder im Zentrum Wiens produzieren.

© Magdalena Lepka

»Das Passende für jeden Kopf«

Heute beschäftigt Mühlbauer 20 Angestellte. Auf jedem Hut ist handschriftlich vermerkt, wer ihn gefertigt hat, von der Strickerin in Sarajevo bis zum Kürschner in Bratislava oder dem Hutmacher in Wien. Nach Fernost auslagern? Kommt nicht infrage. Entsprechend höher sind die Preise: Von knapp 100 bis über 500 Euro kosten die Modelle. »Unsere Zielgruppe sind kunst- und designinteressierte Menschen, eher urban, mit mittlerem oder hohem Einkommen, und eigentlich in jeder Altersgruppe von 20 aufwärts«, sagt Mühlbauer. In der Praxis heißt das, dass er beim Besuch in einer seiner derzeit zwei Filialen auch mal einen Influencer in Streetwear neben einer eleganten älteren Dame vorfindet, die beide probieren. Dann freut er sich: »Wir wollen für jeden Kopf das Passende machen: So selbstverständlich, wie wir auf die Straße gehen, zum Billa oder am Freitag auf eine Party, sollen auch unsere Kopfbedeckungen sein. Natürlich brauchen wir gewisse Klassiker und Standards, eine Aufschlagmütze in Dunkelblau und eine in Schwarz. Aber die Kür ist immer die neue Kollektion.« Für die lässt er sich gerne von Recherchereisen nach Paris und Tokio inspirieren.

Kooperation mit Kenzo und Comme des Garçons

Ob Mühlbauers Transformation in ein Haute-Couture-Haus das Unternehmen über weitere vier Generationen trägt, muss sich zeigen. Die Zeiten sind schwierig, sagt Klaus Mühlbauer selbst. Doch der Online-Verkauf steigt. Instagram und Co sowie eine seit Neuestem videobewegte Website sorgen für Aufmerksamkeit. Mühlbauer kooperiert mit Junya Watanabe, dem Creative Director von Comme des Garçons, mit dem Pariser Luxuslabel Kenzo oder der gehypten österreichischen Designerin Florentina Leitner. »Ich sehe das pragmatisch und habe wenig übrig für Nostalgie«, erklärt der Firmenchef sein Selbstverständnis. Lieber frische Ideen als alte Hüte – auch so geht Transformation.

© Marina Ziegelboeck
STUDIO! 1/2024 Cover