Zum Hauptinhalt springen
studio! Ausgabe 3/2019

Cover Story: Tempo, Tempo!

Der Wandel der Arbeitswelt und insbesondere die Digitalisierung führen dazu, dass wir immer mehr Leistung in immer weniger Zeit erbringen. Doch welches Tempo halten wir im Job aus? studio! beleuchtet die Arbeitswelt zwischen Hektik und Gemächlichkeit.

von Emily Walton

Ein Flugpassagier verspätet sich; Gepäck muss aus dem Flugzeug ausgeladen werden; der Wind dreht; ein Reh verirrt sich auf die Landebahn. Es sind Alltagsszenarien am Flughafen, auf die Viveka Wächter, Fluglotsin der Austro Control am Flughafen Wien-Schwechat, schnell – genauer gesagt: extrem schnell – zu reagieren hat. »Ich muss vom Control Tower aus binnen Sekunden entscheiden, ob ein Flieger abheben oder landen darf bzw. ob er letzten Endes gar durchstarten muss. Die Befehle kommen schnell. Und kein Tag gleicht dem anderen«, schildert Wächter ihren Job.

Die erste Stunde zählt

Schnelles Tempo und sofortiger Handlungsbedarf prägen Wächters Alltag. Diese Faktoren kennt auch Christian Fialka, ärztlicher Leiter des Traumazentrums Wien der AUVA. »Zeit ist ein wesentlicher Faktor in meinem Beruf. Es ist erwiesen, dass die Behandlung eines Schwerverletzten innerhalb der ersten Stunde am wirkungsvollsten ist«, so der Mediziner. »Man wächst quasi beruflich mit dem rasanten Tempo auf.«

Jobs, in denen es auf jede Sekunde ankommt, setzen eine extrem hohe Belastbarkeit voraus. Planbarkeit ist ein Fremdwort. Permanente Konzentration ein Muss. Gerade im Notfall muss blitzschnell gehandelt werden: Was tun, wenn das Flugzeug brennt? Oder wenn eine Vielzahl an Schwerverletzten eingeliefert wird? Sowohl Fluglotsin Wächter als auch Unfallchirurg Fialka durchlaufen jährlich ein komplexes Simulationstraining, um den Ernstfall zu proben.

»Wir trainieren unsere Simulationen immer unter Zeitdruck. Wir messen die Betreuung von Schwerverletzten nicht nur am Endergebnis, sondern vor allem an der Dauer«, sagt Fialka. Hohes Tempo erfordert eine perfekte Abstimmung innerhalb des Teams. In der Unfallchirurgie arbeitet man nach dem sogenannten Schockraum-Konzept. Täglich wird ein Team aus AnästhesistInnen, UnfallchirurgInnen und Pflegepersonal zusammengestellt. Wird ein verletzter Patient von der Rettung angekündigt, werden sofort erste Maßnahmen im OP getroffen. »Fehlerfreies Arbeiten unter extremer Geschwindigkeit funktioniert nur, wenn jeder exakt weiß, welche Funktion er hat. Wenn die Uhr tickt, gibt es keine Zeit für Diskussionen«, sagt Fialka. Bei jeder Schockraum-Behandlung wird ein Trauma-Leader gewählt, auf den es zu hören gilt.

(c) AUVA/Gryc

Herrin der Lage

Fluglotsin Viveka Wächter hatte ursprünglich eine kaufmännische Ausbildung absolviert und eine Zeit lang in einem Büro gearbeitet. »Das Tempo hat mir allerdings nicht entsprochen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, an einem Schreibtisch zu sitzen und Dinge abzuarbeiten. Mir gefällt die Abwechslung, das ständige Gefordertsein und das Gefühl, Herrin der Lage zu sein«, so Wächter. Gibt es einen Typ Mensch – jemand, der im Privatleben besonders quirlig ist oder doch eher besonders ruhig –, den es in Jobs mit höchster Geschwindigkeit zieht? »Ich denke nicht«, sagt Wächter, »meine Kollegen und ich sind alle sehr unterschiedlich. Das überrascht mich selbst immer wieder.« Die Vielfalt der Persönlichkeiten zeigt sich auch darin, was die KollegInnen unternehmen, um nach der Arbeit das Tempo herunterzufahren. Die einen spielen Fußball, die anderen lesen, jagen oder machen Familienaufstellungen, berichtet Wächter. »Seit einer Weile versuche ich, Yoga in meinen Alltag einzubauen. Aber ich merke, dass Joggen oder Tennis, schnelle Sportarten also, mir eher gut tun.«

(c) Austro Control

Arbeiten im Schneckentempo

Nicht immer wird das Tempo von außen – vom Berufsfeld also – vorgegeben. Der Wiener Stadtlandwirt Andreas Gugumuck verschreibt sich seit zehn Jahren der Schneckenzucht. Ein Job, der zunächst extrem langsam klingt. Was sollte es als Schneckenzüchter schließlich anderes zu tun geben, als den 300.000 Tieren auf dem 2.000 Quadratmeter großen Feld das Futter auszustreuen und sie später einzusammeln? Unterhält man sich allerdings mit Gugumuck, wird schnell klar: Der Unternehmer ist kein Mann fürs Langsame. Im sprudelnden Ton erzählt er von neu gegründeten Genossenschaften, Führungen, Caterings und einem Schnecken-Food-Truck. »Ich komme aus der IT-Branche und meine berufliche Neuausrichtung hatte anfangs sicherlich auch den Grund der Entschleunigung. Viel wichtiger aber war mir, dass ich etwas Befriedigendes finde.«

(c) Karin Nussbaumer

Gerade in der Selbstständigkeit liegt es am Unternehmer bzw. an der Unternehmerin selbst, für sich das richtige Tempo zu wählen. »Früher habe ich als Projektleiter 60 Stunden pro Woche gearbeitet. Jetzt komme ich auf deutlich mehr, aber ich empfinde es als ganz anders, weil es die Verwirklichung meiner Visionen ist«, sagt Gugumuck. »Die Herausforderung jetzt ist, darauf zu achten, dass die Familie nicht zu kurz kommt.«

E-Mails poppen auf, eine Whats-App-Anfrage geht ein und eine neue, interessante Studie ist im Netz publiziert worden, in die man sich einlesen könnte. Ob selbstständig oder angestellt: In Zeiten der Digitalisierung findet sich immer etwas, das man schnell noch erledigen könnte. »Bei der Erforschung neuer Arbeitswelten fällt auf, dass der Mensch von den digitalen Arbeitsmethoden überfordert ist«, sagt Barbara Covarrubias Venegas, Researcher und Lektorin im Studienbereich Human Resources & Organization an der FHWien der WKW. »Nur die wenigsten Personen haben bereits die Kompetenz entwickelt, bewusst mit den neuen Tools umzugehen. Viele finden noch immer nicht das richtige Maß.«

(c) Philipp Lipiarski

30 Wochenstunden sind genug

Stefan Feigl und Simon Rausch, Gründer der Kommunikationsagentur Noodles und beide Absolventen des Master-Studiengangs Kommunikationswirtschaft an der FHWien der WKW, haben es sich zum Ziel gesetzt, ihren MitarbeiterInnen ein hohes Maß an Eigenverantwortung einzuräumen – und das in einer 30-Stunden-Arbeitswoche bei vollen Bezügen. »Wir haben beide Erfahrungen mit der 40-Stunden-Arbeitswoche gesammelt und gemerkt, dass es Leerzeiten und viele unproduktive Phasen gibt. Zudem sinkt die Aufmerksamkeit durch das Zeitabsitzen. Daher haben wir beschlossen, bei uns die 30-Stunden-Woche einzuführen«, berichtet Gründer Feigl.

Binnen dieser 30 Stunden gewähren die Agenturchefs ihren MitarbeiterInnen viele Freiheiten. Jeder kann das Tempo selbst wählen, Home-Office ist möglich, zudem gibt es keine fixen Arbeitszeiten. »Wir leben eine Jour-Fixe-Kultur. Ansonsten aber tragen die Kolleginnen und Kollegen die Selbstverantwortung für ihr Zeitmanagement«, erklärt Rausch.

Das neue Arbeiten ist auch geprägt von neuen Begrifflichkeiten. So ist immer wieder von »Slow Work« die Rede. »Dieser Trend schwappt gerade von den USA zu uns herüber«, beobachtet Barbara Covarrubias Venegas. »Slow Work ist quasi die natürliche Gegenbewegung zur überschnellen Arbeitswelt. Achtsamkeit ist hier zentral.« Auch Powerworking ist ein Begriff, der in puncto neue Arbeitsweisen in den Fokus gerückt. »Hier geht es um intensives, konzentriertes Arbeiten während einer sehr kurzen Zeitspanne. Es ist längst bekannt, dass unsere Aufmerksamkeit rasch nachlässt.« Höchste Konzentration setzt viele Pausen voraus – auch das wird in den »schnellen« Jobs, die eine ausdauernde Konzentration erfordern, praktiziert. »Wir dürfen höchstens 135 Minuten am Arbeitsplatz sitzen. Das ist das absolute Maximum«, berichtet Fluglotsin Wächter. »Im Durchschnitt haben wir allerdings nach 90 Minuten eine Pause.«

(c) Austro Control

Downshifting, Monotasking & Co

studio! erklärt einige Begriffe aus der neuen Arbeitswelt

Downshifting

Damit wird das bewusste Runterschalten und Kürzertreten im Beruf bezeichnet. Im Gegensatz zum weiteren Aufstieg auf der Karriereleiter kann es beim Downshifting auch um einen oder mehrere Schritte zurück gehen, etwa indem man eine Beförderung ablehnt oder die Arbeitszeit reduziert.

Monotasking

Der Gegenentwurf zum Multitasking ist Teil des Konzepts »Slow Work«, also des Versuchs, mehr Achtsamkeit in den Alltag zu bringen, die Arbeitszeit sinnvoll zu nutzen und gezielt Pausen einzubauen. Ein erster Schritt in Richtung Monotasking ist es zum Beispiel, das Smartphone während konzentrierter Arbeit auszuschalten.

New Work

Unter diesem Begriff wird die Arbeitsweise im globalen und digitalen Zeitalter subsumiert. Er wurde vom austro-amerikanischen Sozialphilosophen Frithjof Bergmann geprägt. Die zentralen Werte des Konzepts von New Work sind die Selbstständigkeit, die Freiheit und die Teilhabe an der Gemeinschaft. New Work soll neue Freiräume für Kreativität und die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit bieten.

Work-Life-Blending

Statt den Spagat zwischen Arbeit und Freizeit zu versuchen, steht Work-Life-Blending für einen neuen Ansatz von Vereinbarkeit, für die laufende, fließende Verbindung der Lebenswelten Büro und Zuhause. Dabei versuchen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen, Lösungen zu finden, um die steigende Belastung durch berufliche Anforderungen zu kompensieren – etwa durch Mobile-Office-Lösungen.

Hohes Tempo, mehr Fehler

Zu schnelles Tempo und zu wenige Pausen können zu Burnouts führen und die Fehlerquoten erhöhen: »Hier sollten Unternehmen unbedingt an ihrer Kultur arbeiten«, mahnt Wissenschaftlerin Covarrubias Venegas. Gerade Führungskräfte hätten als »Tempomacher« eine große Vorbildwirkung. »Schreibt der Chef um drei Uhr morgens Mails, oder antwortet er immer binnen zwei, drei Minuten, erhöht das den Takt in einem Unternehmen und löst Druck auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus«, sagt die Personalexpertin.

Auch Walter Mayrhofer, Leiter des Moduls »New World of Work« im neuen Bachelor-Studiengang »Digital Business« an der FHWien der WKW und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Human Centered Cyber Physical Assembly and Production Systems der TU Wien, rät dazu, an der Unternehmenskultur im Umgang mit Neuen Medien zu arbeiten. »Das ständige Multitasking und die ›Always-On‹-Mentalität überfordern viele Menschen. Obwohl Menschen bei Meetings körperlich anwesend sind, ist ihre Aufmerksamkeit woanders.« Das Ineinanderfließen von Arbeits- und Freizeitblöcken löst Druck aus, nicht zuletzt vom Individuum selbst herbeigeführt, weil er das Tablet oder Handy zückt und E-Mails oder andere Nachrichten abruft. »Schriftliche Kommunikation war ursprünglich asynchron, durch die kurzen Übertragungszeiten wurde sie allerdings fast zur synchronen Kommunikation. E-Mail ist damit der Stein des Sisyphos des modernen Arbeitslebens«, so Mayrhofer.

Bloß nicht warten

Manche Start-ups wie auch Teilzeitkräfte nehmen sich heraus, E-Mail-Öffnungszeiten einzuführen. Es wird darauf hingewiesen, dass erst in einem bestimmten Zeitraum mit einer Antwort zu rechnen ist. »Wir sind in Zeiten der Digitalisierung gewöhnt, dass alles schnell passiert und man nicht warten muss«, weiß Covarrubias Venegas. Wird nicht binnen 24 Stunden geantwortet, werde man nervös. Somit sei am Expectation-Management, dem Umgang mit den Erwartungen, ebenso zu arbeiten wie am Zeitmanagement an sich. Von diesem »Nachholbedarf« geht auch Mayrhofer aus: »Realistischerweise wird das Arbeitstempo der Zukunft nicht langsamer werden. Die Menschen müssen daher lernen, mit ihren Ressourcen entsprechend umzugehen.«

»In Österreich spüre ich mehr Gelassenheit«

LeiLei Wen (33) absolviert den International MBA in Management & Communications an der FHWien der WKW. Mit studio! spricht sie über kulturelle Tempo-Unterschiede.

Frau Wen, wie unterscheiden sich die Arbeitswelten in Österreich und China?

Wen: Das reicht von kulturellen Gebräuchen bis hin zu gesetzlichen Regelungen. Vor allem die Führungskultur ist in China deutlich anders geprägt, sie ist sehr »top down«. In Österreich und Deutschland erlebe ich das anders: Manager sind eher Teil des Teams. In China wird selten gewünscht, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Entscheidungen teilhaben, es ist viel schwieriger, seine Meinung zu äußern.

Und wie weicht das Arbeitstempo voneinander ab?

Wen: Die rasanten wirtschaftlichen Entwicklungen in China im Lauf der vergangenen zehn Jahre schlagen sich auch auf die Arbeitswelt nieder. Beschäftigte sind in China sehr leistungsorientiert, in Österreich spüre ich viel mehr Gelassenheit. Freizeit und Familie sind den Menschen hier viel wichtiger. Außerdem steht in Österreich meist die Wahrung der Rechte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Vordergrund.

Gibt es ein konkretes Beispiel?

Wen: Meetings sind ein gutes Beispiel. In China gibt es immer jemanden, der die Besprechung am Ende zusammenfasst, mit dem Ziel, den konkreten Fortschritt festzuhalten. In Österreich erlebe ich immer wieder, dass man aus einem Meeting geht und viele Dinge noch offen sind, man also gar nicht viel weiter gekommen ist.

Gilt das schnelle Tempo in chinesischen Unternehmen für alle Altersgruppen?

Wen: Ich denke, bei der jungen Generation findet ein Umdenken statt. Sie leben nicht mehr, um zu arbeiten, sondern arbeiten, um zu leben. Sie sind auch ganz anders aufgewachsen als viele der Älteren. Sie sind die Generation der Einzelkinder. Sie nehmen sich mehr heraus, wechseln etwa häufiger Jobs, was früher außergewöhnlich war.

Wird man in China schon früh an Leistung und rasches Tempo gewöhnt?

Wen: Auf jeden Fall. Das gesamte Umfeld ist deutlich kompetitiver als in Österreich, und zwar von Kindheit an. Man muss sich anstrengen, um in eine gute Schule zu kommen oder an eine gute Universität. Man möchte Leistung erbringen, und alle anderen sollen es sehen. Hier in Österreich ist der Druck viel geringer. Es gibt sowieso einen gewissen Wohlstand, ein gutes Sozial- sowie ein gutes Gesundheitssystem.

Ist die Geschwindigkeit in chinesischen Großstädten anders als in Wien?

Wen: Das Tempo der gesamten Gesellschaft ist anders. Wenn ich zu Besuch in China bin, fällt mir immer wieder auf, wie viel rascher die Dinge sind: Die Aufzüge in der U-Bahn fahren schneller und schon allein das Einkaufen am Kiosk ist flotter. In China zahlt kaum jemand mit Geld oder Bankkarte. Man verwendet den QR-Code. Einfach, weil es Zeit spart.