Zum Hauptinhalt springen
studio! Ausgabe 2/2016

Cover Story: Die richtige Aufstellung finden

Ob auf dem grünen Rasen oder im Büro: Wo klare Regeln und Rollenverteilungen fehlen, wird Teamarbeit unmöglich. studio! hat mit ExpertInnen aus Theorie und Praxis darüber gesprochen, wie Arbeiten in dezentralen, autonomen Organisationsstrukturen mit flachen Hierarchien funktionieren kann.

von Astrid Kasparek

Wir befinden uns im Stadion. Das Spiel beginnt mit hoher Dynamik. Die AkteurInnen sind ständig in Bewegung, Pässe gehen rasch hin und her. Das Zusammenspiel funktioniert blind, jeder kann sich auf seine MitspielerInnen verlassen. Alles geht blitzschnell, Angriffe, Konter, Ballverlust. Jeder Moment kann spielentscheidend sein. Die Spannung steigt und wir fragen uns: Kriegt die Mannschaft das hin? Wie ist so ein schnelles Spiel möglich? Anstelle des Sportmoderators analysiert der systemische Unternehmensberater und Spezialist für agile Organisation und Innovation, Gerald Mitterer, für studio! das sportliche Geschehen am Rasen und in der Wirtschaft.

Speed durch kurze Entscheidungswege

»Geschwindigkeit im Zusammenspiel ist nur deshalb möglich, weil jedem Spieler in der Mannschaft seine Rolle klar ist – und die an ihn gerichteten Erwartungen der anderen Spieler. Genau dafür entwickeln Mannschaften ausgefeilte Spielsysteme mit klaren Rollen wie Stürmer, Außenverteidiger, Innenverteidiger und Torwart. Standardsituationen werden hundertfach trainiert, Laufwege festgelegt, Elfmeterschützen bestimmt«, sagt Mitterer, der vor kurzem das Wiener Organisationsberatungs-Unternehmen »dwarfs and Giants« mitbegründet hat.

Jeder einzelne Spieler kann in seiner Rolle ganz autonom entscheiden, ob er den Ball dem Stürmer vor ihm zuspielt oder ob er gleich selber ins Tor schießt. Beim Fußballspiel ist es allerdings völlig unvorstellbar, dass der Tormann plötzlich losstürmt, den Ball in die Hand nimmt und ins gegnerische Tor katapultiert. »Umgelegt auf die Wirtschaft können wir in Organisationen genau dieses Verhalten ständig beobachten«, erklärt Mitterer und bringt Beispiele aus dem Arbeitsalltag. »Wir sitzen oft stundenlang in Meetings, diskutieren und entscheiden bei allem mit, obwohl es oft völlig unklar ist, aus welcher Rolle heraus. Was hier durch die gemeinsame Entscheidungsfindung verschleiert wird, ist der Mangel an Klarheit der Rollen. Genau diese Klarheit ist nötig, damit schnelles und perfektes Zusammenspiel wie im Fußball auch gelingt.«

Immer mehr Unternehmen bekennen sich zu flachen Hierarchien und mehr Eigenverantwortung für ihre MitarbeiterInnen. Fokus auf Teamarbeit heißt aber nicht, dass alle alles machen sollen und über alles basisdemokratisch abgestimmt werden muss. Im Gegenteil. Für Mitterer ist Fußball das beste Beispiel dafür, dass gute Teamarbeit eigentlich alles andere als demokratisch ist: »Klare Regeln und Rollen sind das Um und Auf für effiziente Entscheidungsprozesse und damit für das Funktionieren einer Organisation«, stellt der Unternehmensberater klar.

(c) iStock

Holacracy und Scrum

Die Neuordnung und Definition von Rollen steht auch im Fokus der neuen Managementpraxis Holacracy, auf die sich dwarfs and Giants spezialisiert hat. Holacracy durchbricht das klassische Verständnis von Hierarchien und Positionen und hilft dabei, klare Rollen zu definieren und Strukturen zu schaffen, in denen rasche Entscheidungsfindungen möglich sind. Das klassische Organigramm wird ersetzt durch miteinander verbundene Kreise, so genannte Holons – daher der Name Holacracy. Die Kreise bilden sich nach den Erfordernissen, die sich aus Aufgabenstellungen ergeben. Die Zusammenarbeit erfolgt durch Vertreter, die in die umliegenden Kreise gesandt werden. Solche selbstorganisierten Teams gibt es auch in agilen Unternehmen, die mit der Scrum-Methode arbeiten. Scrum ist ein Begriff aus dem Rugby und bezeichnet das Gedränge beim Rugby-Spiel, das von außen – vom Schiedsrichter – angeordnet wird. Die Teams bestimmen aber selbst die Taktik, wie das Ziel erreicht wird.

Das Scrum-Prinzip wurde ursprünglich in der Softwareentwicklung angewendet und kann beschrieben werden als: »Arbeit in kurzen Zyklen«. Das bedeutet: Bei der Entwicklung eines Softwareproduktes finden regelmäßig Feedback-Updates mit dem Kunden statt, um sicherzustellen, dass es in die richtige Richtung geht. Erst wenn der erste Grundtyp des Produktes passt, beginnt der nächste Schritt. Der gesamte Produktionsprozess ist also in kurze Arbeitszyklen aufgeteilt und je nach Bedarf kann das Team auch jederzeit ergänzt oder verändert werden.

(c) iStock

Agiles Arbeiten ist leben im Team

Marlene Stroj ist Scrum-Master in der Schweizer Webagentur Liip, einem Vorreiter in der agilen Software-Entwicklung mit etwa 130 MitarbeiterInnen. Der Scrum Master ist dafür verantwortlich, dass es im Team allen gut geht und dass alles funktioniert. Eigenständig agierende Teams mit Entscheidungskompetenz gibt es bei Liip schon seit etwa vier Jahren. Das klassische mittlere Management fehlt völlig, gearbeitet wird in interdisziplinären Teams, die weitreichende Entscheidungen selbst treffen.

Am T-Shirt der gebürtigen Österreicherin Stroj prangt eine Eule – das Markenzeichen ihres Teams. »Unsere Teams haben alle einen Namen, das fördert die Identifikation mit dem Team«, sagt Stroj. »Meine Rolle ist es, den Überblick zu haben und bei den Meetings zu erkunden, was gut und was weniger gut läuft«. Parallel zur Scrum-Methodik, die den Prozess der Produktentwicklung effizienter und schneller macht, wird nun bei Liip mit Hilfe von Holacracy die Organisationsstruktur, sprich die einzelnen Rollen, neu definiert.

Wer und was bin ich eigentlich?

Dieser Prozess der Rollendefinition ist gar nicht so einfach, wie es klingt, gesteht Stroj. »Es müssen alle bereit sein mitzumachen, sonst funktioniert es nicht. Es geht darum, Strukturen zu straffen, Energien nicht zu vergeuden, Doppelgleisigkeiten zu vermeiden und die richtigen Leute mit den richtigen Aufgaben zu betrauen. Jeder soll die Möglichkeit haben, die Rollen zu übernehmen, in denen er sein Potenzial am besten ausschöpfen kann und die ihn am meisten motivieren. Sich seinen verschiedenen Aufgabenbereichen bewusst zu werden, und die in Rollen zu übersetzen, ist aber nicht immer einfach. Ein spannender Prozess, der noch lange nicht zu Ende ist«, resümiert Stroj.

(c) iStock

Start-up mit Durchblick

Ein weiteres Unternehmen, das auf flache Hierarchien und Teamarbeit setzt, ist das Wiener Start-up durchblicker.at. Vor sechs Jahren gründete Reinhold Baudisch gemeinsam mit seinem ehemaligen McKinsey-Kollegen Michael Doberer das Online-Vergleichsportal. »Gestartet haben wir im Zweier-Team, das war damals fast eine symbiotische Beziehung. Wir sind tagtäglich zusammengesteckt, Tag und Nacht. Jetzt sehen wir uns, wenn’s gut geht, zwei Mal die Woche.«

Von Vorteil war, dass die beiden Gründer zwar ähnliche Lebensläufe und ähnliche Jobs, aber völlig unterschiedliche Charaktere haben. »Michael ist der zahlenorientierte, analytische Mensch, ich war für die Kommunikation und Vertriebsagenden zuständig«, erzählt Baudisch (siehe Interview). Noch bevor die Firma gegründet war, waren die Rollen schon aufgeteilt. »Wir haben klar gesagt: Das mach’ ich, das machst du. Und diese Aufteilung hält bis heute. Aber je größer das Schiff wird, umso schwieriger ist es zu steuern«, gibt Baudisch zu. »2013 waren wir so zwischen zehn und 15 MitarbeiterInnen und ich bin nur mehr gerannt wie verrückt. Wir hatten keine Zeit mehr zu kommunizieren und haben die Stoßrichtung völlig aus den Augen verloren.« Der Paradigmenwechsel kam dann 2015,  als Baudisch beschloss, den Marketingbereich zu professionalisieren. »Dabei bin ich mir aber selber im Weg gestanden, weil ich der Meinung war, dass ich niemanden finden werde, der das besser kann als ich. Das war eine krasse Fehleinschätzung.« Heute hat durchblicker.at mit Alexander Leopoldinger-Haiden einen Chief Marketing Officer an Bord, der nicht nur auf Digitalmarketing und Social-Media-Aktivitäten, sondern auch auf klassische TV-Werbung Wert legt. Der studierte Wirtschaftspsychologe ist übrigens seit 2012 Lektor am Institut für Unternehmensführung der FH-Wien der WKW für die Bereiche Marketing und Human Resources.

Nicht jedem Ball nachrennen

»Wir haben zu zweit begonnen und beschäftigen mittlerweile 30 MitarbeiterInnen. Die Mannschaft arbeitet in Projekt-Teams. Ich selbst habe mich vom Stürmer zum Trainer entwickelt und anstatt dem Ball nachzurennen, ist es jetzt meine Aufgabe, die besten Player zu finden, sie langfristig zu halten und die Dynamik im Spiel zu fördern«, resümiert Baudisch.

Finaler Tipp von Organisationsberater Gerald Mitterer – auch an Marcel Koller, den Trainer der österreichischen Fußballnationalmannschaft, gerichtet: »Wichtig ist nicht nur, die richtige Aufstellung und die richtige Spieltaktik zu wählen, sondern vor allem: Wie rasch kann ich die Mannschaft adaptieren, wenn ich merke, dass es nicht passt.«

»Transparenz, Qualität und Wertschätzung statt Abzocke«

Der Geschäftsführer von durchblicker.at, Reinhold Baudisch, verrät im studio!-Gespräch, warum es trotz flacher Hierarchien und Transparenz einen Chief Happiness Officer braucht.

Teamarbeit ist alles andere als demokratisch, sagen UnternehmensberaterInnen. Wie demokratisch sehen Sie sich als Geschäftsführer, der auf flache Hierarchien setzt?

Baudisch: Flache Hierarchien bedeuten für mich nicht, dass die Geschäftsführung keine Entscheidungen alleine treffen darf. Das wäre ja kontraproduktiv. Natürlich gibt es Angelegenheiten, in denen die Geschäftsführung letztendlich völlig undemokratisch entscheidet. Aber das Wichtige dabei ist, diese Entscheidungen transparent zu gestalten, damit sie für alle MitarbeiterInnen nachvollziehbar sind.

(c) Christoph Liebentritt

»Unser Antrieb ist Transparenz, in die Produktenwicklung unseres Unternehmens fließt viel Herzblut« – ist das nicht eine sehr pathetische und ungewöhnliche Wortwahl für ein Stelleninserat eines Start-ups?

Baudisch: Wir machen das mit voller Absicht, dass wir bereits bei der Ausschreibung einer offenen Stelle unsere wichtigsten Unternehmenswerte mittransportieren: Transparenz, direkte Kommunikation, Qualität und Verantwortung, Wertschätzung der KonsumentInnen statt Abzocke. Die JobanwärterInnen sollen ja von Anfang an wissen, was sie bei uns erwartet und was wir von ihnen erwarten. Natürlich suchen wir die besten und fähigsten MitarbeiterInnen, die es für unsere Anforderungen gibt. Aber sie müssen auch unsere Werte mittragen können und wollen. Es nützt mir nichts, wenn jemand lieber Versicherungen mit hohem Profit verkaufen möchte, anstatt für KonsumentInnen das kostengünstigste und passendste Produkt zu finden.

(c) Christoph Liebentritt

Haben Sie Strategien, um die Identifikation der MitarbeiterInnen mit dem Unternehmen zu fördern?

Baudisch: Mein Partner und ich haben sehr rasch erkannt, dass sich unsere MitarbeiterInnen noch stärker mit ihrer Arbeit identifizieren, wenn sie wissen, was im Unternehmen sonst noch passiert. Darum versuchen wir, alle relevanten Informationen über möglichst viele offene Kommunikationskanäle in Fluss zu halten.

Wie schaut das konkret aus?

Baudisch: Wir haben die ganz normalen wöchentlichen Jour fixes in den jeweiligen Teams, bei denen interne Projekte besprochen werden. Darüber hinaus finden alle zwei Wochen teamübergreifende, kurze Standup-Meetings im zentralen Gemeinschaftsraum des Büros statt. Alle zwei Monate gibt es dann auch die so genannten MIB’s – Management and Innovation Breakfasts. Bei einem gemütlichen Frühstück mit Kaffee, Brötchen und Croissants besprechen wir alles, was gerade aktuell ist. Diese Art der Meetings sind einfach wichtig für den sozialen Zusammenhalt im Team. Und unser Chief Happiness Officer sorgt dafür, dass es allen MitarbeiterInnen im Unternehmen auch gut geht und dass sie sich wohlfühlen. Die Kollegin, die diese Rolle übernommen hat, ist dafür zuständig Firmenevents wie Trainings oder Feiern zu organisieren. Und sie hat stets ein offenes Ohr und Auge für persönliche Anliegen der MitarbeiterInnen, die eher unter vier Augen angesprochen werden. Ich halte es hier wie Marcel Koller: Wenn das Zusammenspiel im Team nicht passt, helfen auch die besten Strategien nichts.