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STUDIO! Ausgabe 1/2020

Im Interview: Toni Innauer – „Die Menschheit überholt sich selbst“

Skisprung-Olympiasieger, ÖSV-Sportdirektor, Philosoph, Trainer und Vortragender – kaum jemand hat den österreichischen Spitzensport so geprägt wie Toni Innauer. Im studio!-Gespräch erzählt der Wahltiroler, warum Skispringer besonders feinfühlig sind, was einen guten Coach ausmacht und warum das Studium sein Leben gerettet hat.

von Kristina Schubert-Zsilavecz

Fangen wir mit den Begrifflichkeiten an: Welchen Unterschied gibt es eigentlich zwischen einem Coach und einem Trainer?

Innauer: Im Sport sind die beiden Begriffe synonym. Man unterscheidet aber innerhalb der Gruppe beispielsweise zwischen Mentalcoach, Therapeut und Wirtschaftscoach. Leider gibt’s eine unsaubere Trennung zwischen diplomierten und selbst ernannten Therapeuten. Als Sportdirektor war es mir wichtig, die Qualität von Ausbildungen beurteilen zu können.

Also bestimmte Richtlinien festzulegen, wer Coaching-Aufgaben übernehmen darf?

Innauer: Ja, wobei wir erst Ende der 90er-Jahre begonnen haben, das systematisch zu organisieren. Unabhängig von der individuellen Ausbildung gibt’s große Unterschiede, was die Qualifikation betrifft. Es gibt Grenzen dessen, was man als Sportpsychologe zu beurteilen vermag, also ob noch leistungsmäßig optimiert werden kann oder ob es Traumata gibt, die ein normaler Coach nicht bewältigen kann.

Zum Bild, das viele von SpitzensportlerInnen haben, gehört, dass ihr Leben von Trainern, Ärzten, Physiotherapeuten, Pressesprechern etc. bestimmt ist. Wie fremd- bzw. selbstbestimmt lebten und leben Spitzensportler einst und heute?

Innauer: Die Anzahl an Betreuern ist deutlich größer geworden. Früher war der Cheftrainer zugleich Kraft- und Techniktrainer, Leistungsdiagnostiker, Ernährungsberater und Mentalcoach in Personalunion. Ich bin noch in den Genuss dieser Multirolle gekommen, fühlte mich überfordert und habe gemerkt, dass wir mehr Leute brauchen. Auch für Medien und Sponsoren braucht man mittlerweile Spezialisten.

(c) Toni Innauer

Und was bedeutet das für die SportlerInnen?

Innauer: Jetzt kann man sagen, der ist fremdbestimmt, aber im Grunde genommen läuft’s ein bisschen anders. Die Spezialisten scannen und horchen hinein, der Leistungssportler ist da in einer sehr privilegierten Situation. Es wird ihm schon was vorgegeben, aber immer angepasst an den Zustand, der vorher erhoben wurde.

Muss man als Skispringer besonders mutig sein?

Innauer: Interessanterweise sind die sehr guten Skispringer oft die besonnenen, bedachten Typen. Nicht nur die Mutigen setzen sich durch, sondern vor allem die Lernfähigen, die hohes Geschick haben und wahrnehmungsfähig sind für die Kräfte außerhalb des eigenen Körpers. Das Sensorium für Geschwindigkeit, Rhythmus, Luft und Gleichgewicht spielt eine große Rolle.

Was macht die Faszination dieser Sportart aus?

Innauer: Die Faszination liegt darin, dass man etwas tut, was eigentlich unbeschreiblich ist: Ein Mensch mit nur zwei Latten an den Beinen und ohne zusätzlichen Antrieb kann fliegen. Wenn so ein Sprung glückt und alle Kräfte harmonisch zusammenarbeiten, ist das unvergleichlich. Natürlich geht es im Spitzensport um Leistung, aber die Sportart an sich ist ein riesengroßes Abenteuer.

Was können »normale« Menschen von Spitzensportlern lernen? Warum sind gerade ehemalige Sportler als Keynote Speaker so beliebt?

Innauer: Das ist der Effekt der Authentizität, jemanden vor sich zu haben, der es auf seine Art geschafft hat, die Ziele zu erreichen, die man selber verfolgt. Es gibt ja viele, die über alles Mögliche gescheit reden. Aber zu hören, wie jemand mit Arbeit, Strategie und Einsatz seinen Weg gemacht hat und mit Erfolg und Niederlagen umgegangen ist, ist was ganz anderes und kann Leute inspirieren.

Wie war der Wechsel vom Spitzensport zum »normalen« Leben für Sie damals?

Innauer: Das war die große Umstellung für mich, die ich nicht geschafft hätte, wenn da nicht sechs Jahre Studium dazwischen gewesen wären. Als Sportler hat man eine gewisse Prägung, die Dinge zu verstehen und mit anderen Menschen umzugehen. Ich habe erst im Laufe der Zeit ein gutes Maß an Einfühlungsvermögen entwickelt. Diese Ausbildung im sachlichen und methodischen Sich-Annähern an praktische Fragestellungen war enorm wichtig.

Welche Eigenschaften braucht ein guter Coach?

Innauer: Logischerweise Fachkompetenz. Hinzu kommen Sozialkompetenz, Empathie, aber auch Methodenvielfalt, didaktisches Wissen und Teamfähigkeit. Im Gesundheitsbereich ist es so, dass man oft sagt: »Wenn du mit mir arbeiten willst, vergiss alle anderen«, während unsere Coaches kooperieren müssen – der Physiotherapeut muss wissen, was der Sportpsychologe macht und umgekehrt.

Die Bezeichnung Coach wird mittlerweile inflationär verwendet, es gibt für alle Lebensbereiche Coaches – ob Sport, Beruf, Partnerschaft oder Haushalt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Innauer: Coach ist keine geschützte Berufsbezeichnung und das hat zur Folge, dass von großartigen Leuten bis hin zu Scharlatanen alles vorkommen kann. In Zeiten, in denen die Darstellung einer Sache wichtiger ist als die Substanz, ist die Versuchung groß, dass sogar Leute, die selbst mit ihrem Leben überhaupt nicht klarkommen, als Coaches auftreten.

Verlernen wir als Gesellschaft, selbständig zu leben?

Innauer: Die gesamte Gesellschaftsstruktur ändert sich gerade, Familienbande lösen sich auf, kommunale Zusammenhänge und Subkulturen werden abgebaut. Früher hat man innerhalb dieser Strukturen Wissen weitergegeben, heute holt man sich Hilfe von außen, aus dem Netz. Bei der Auswahl ist Urteilsvermögen gefragt, Bildung und Lebenserfahrung sind dabei eine gute Ausrüstung.

Der Trend zum Coaching ist ja auch Teil unserer Leistungsgesellschaft – alles wird optimiert, muss perfekt sein. Wie beurteilen Sie diesen Zusammenhang?

Innauer: Innerhalb von zehn Jahren ändert sich so viel, dass die ältere Generation bei manchen Themen keine Hilfe mehr ist. Die Menschheit überholt sich selbst. Coaching ist auch ein Geschäft mit der eigenen Unsicherheit geworden. Es geht tief in Politik und Wirtschaft hinein, wo Menschen große Verantwortung tragen, sehr schnell in Jobs kommen und dort den Eindruck von Souveränität vermitteln müssen, obwohl sie diese Eigenschaft eigentlich nicht haben. Um die eigene Verantwortung abzufedern, holen sie Coaches.

Stichwort »Selbstcoaching«: Was braucht es aus Ihrer Sicht, um sich selbst ein guter Coach zu sein?

Innauer: Viele Leute erwarten sich von einem Coach einen speziellen Trick oder Kniff, mit dem das Problem im Handumdrehen gelöst ist. Aber wenn man eine Gewohnheit wirklich verändern möchte, ist das ein langwieriger Lernprozess, der mit Scheitern, Geduld und Ausdauer verbunden ist.

Wie wichtig sind Misserfolge und wie kann man aus ihnen lernen?

Innauer: Die kleinen Misserfolge finden ständig statt, wenn ich etwas einübe, das noch zu schwer für mich ist. Wenn man Ziele erreichen will, ist eine gewisse  Frustrationstoleranz wichtig. Bis Gehirn und Körper eine Bewegung, eine Tätigkeit perfektioniert haben, ist man unbeholfen und das muss man aushalten.

(c) Toni Innauer

Was macht mentale Stärke aus bzw. wie trainiert man sie?

Innauer: Zweifellos gibt es genetische Faktoren, aber das Umfeld, die Familie sind mindestens genauso wichtig. Konzentrationsfähigkeit und Frustrationstoleranz sind vielleicht angelegt, aber man kann sie auch trainieren und verbessern, so wie die Ausdauer. Wesentlich für Spitzensportler ist der Aspekt der Inhibition, also die Fähigkeit, Störfaktoren gedanklich nicht an sich heranzulassen.

Was tun Sie selbst für sich, um physisch und psychisch gesund zu bleiben?

Innauer: Ich lerne gerne Neues, ich lese viel, betreibe Sportarten wie Golf, Langlaufen und Radfahren, besuche gelegentlich ein Fitnessstudio und erlebe als Fliegenfischer die Natur intensiv. Unsere Ernährung ist vollwertig und biologisch und ich pflege meinen gesunden Schlaf.

Die meisten von uns verbringen zu viel Zeit sitzend vor dem Smartphone und bewegen sich immer weniger – manche Forscher warnen sogar davor, dass wir zunehmend das Gehen als elementare Bewegungsform verlernen. Was sagen Sie dazu?

Innauer: Ich beobachte, dass Bewegung als ganz normal mitgeliefertes Potenzial sich langsam zurückentwickelt. Zukünftig wird man motorische Fähigkeiten und Körpergefühl wie Mathematik und Schreiben als Kulturtechnik vermitteln müssen. Die Wirtschaft suggeriert einem, dass man mit dieser App oder jenem Tool an Lebensqualität gewinnt, in Wirklichkeit raubt vieles davon die Voraussetzung für die Entfaltung unseres genetischen Programmes. Der Körper hat einen wesentlichen Einfluss darauf, wie unser Gehirn funktioniert. Wir sind Körper!

(c) Toni Innauer

Skispringer und Sportexperte

Anton »Toni« Innauer (* 1. April 1958 in Bezau, Vorarlberg) holte als Skispringer Olympiagold (1980 in Lake Placid, USA) und stellte zweimal den Weltrekord im Skifliegen auf. Nach seinem verletzungsbedingten Karriereende 1980 studierte Innauer Lehramt Psychologie/Philosophie und Sport und begann journalistisch und im Sportmanagement zu arbeiten. Danach war er jahrelang als Trainer und Rennsportdirektor für den ÖSV tätig. Seit 9 Jahren leitet Innauer die Sportagentur Innauer+(f)acts, ist Vortragender, ZDF-Experte und Autor.

Derzeit arbeitet Toni Innauer in Kooperation mit dem Sportwissenschaftler Patrick Koller an einem Buch über ein spezielles Bewegungsprogramm mit ausgewählten »Animal Movements«. Die über Jahre entwickelte Serie kann ohne Geräte im Studio oder jedem Hotelzimmer durchgeführt werden. Der Arbeitstitel lautet: »Die zwölf Tiroler«. Das Buch wird im September 2020 erscheinen.

www.toni-innauer.at
www.innauerfacts.at