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„Verstehen, vermitteln, verteidigen“ Ein Nachbericht der Podiumsdiskussion „Gesellschaft & Emotion: Was lernen wir aus aktuellen Krisen?“

3. Juni 2022

Wie reagieren wir im Dauerkrisenmodus auf Ereignisse, die durch Fake News verblüffend unterschiedlich interpretiert werden können? Am 10. Mai 2022 diskutierten die Politikwissenschaftlerin Mag. Natascha Strobl mit den beiden Wirtschaftsethikern Prof. Thomas Beschorner und FH-Prof. Markus Scholz diese Frage. Moderiert wurde die Veranstaltung, zu der das Institute for Business Ethics and Sustainable Strategy (IBES) an der FHWien der WKW eingeladen hatte, von Dr. Daniela Ortiz.

Die Experten sitzen um einen runden Tisch und diskutieren
Fotocredit: © markushechenberger.net

In ihrem einleitenden Vortrag stellte Natascha Strobl dar, dass wir uns derzeit in einer Phase der Krisenverdichtung befinden. Der Prozess, dass Krisen ineinander übergehen, begann bereits vor der Covid-19-Pandemie. Diese Verdichtung der Krisen wird von einer politischen Erosion begleitet. Dabei verschwimmt das Einverständnis zwischen Regierenden und Regierten zunehmend.

Laut Strobl war die Präsidentschaft von Donald Trump der bisherige Höhepunkt dieser Entwicklung, die als fünf Jahre Ausnahmezustand beschrieben werden kann. Anhand der Ära Trump lässt sich die politische Strategie der emotionalen Überwältigung erklären. Durch die permanente Produktion von Skandalen gehen Zeit für Analysen und Freiräume für den gegenseitigen Austausch verloren. Diskursive Begegnungen werden erschwert, was zu einer Verhärtung der Fronten führt. In einem weiteren Schritt präsentiert die „Krisenverdichtungspolitik“ der Bevölkerung einfache Lösungen und sich selbst als Heilsbringer. Dieses Angebot umfasst meist ein „Zurück in die Vergangenheit“ inklusive nationalistischer und mitunter faschistischer Ideen. Dieser Erosionsprozess tritt auf, wenn die demokratischen Kräfte eines politischen Systems Schwierigkeiten haben selbst Lösungen zur Krisenbewältigung zu präsentieren.

Covid-19 Pandemie als Brennglas

In der folgenden Diskussion hielt Thomas Beschorner fest, dass die Informationsgesellschaft Fahrt aufgenommen hat, aber durch die vielen Informationen auch viel Unsinn verbreitet wird. Die daraus resultierende Verunsicherung verstärkt die Anfälligkeit für einfache Antworten auf komplexe Fragen. Er beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch „In schwindelerregender Gesellschaft“. Dabei wirkt die Covid-19-Pandemie wie ein Brennglas, welches die zusätzlichen Herausforderungen (wie z. B. die Klimakrise) noch verstärkt. Verschwörungsmythen erscheinen so als einfache Wege aus dieser Verunsicherung.

Markus Scholz sieht mehrere Anreize die Verschwörungsmythen für Menschen attraktiv machen. Zum einen die positive Selbstwahrnehmung, die aus dem vermeintlichen Wissensvorsprung gegenüber anderen resultiert. Zum anderen der Wunsch einer eigenen Struktur und einfacher Erklärungen für eine komplexe Welt, die Verschwörungsgläubigen ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle geben, das der gefühlten Ohnmacht angesichts aktueller Krisen entgegenwirkt.

Dauerkrise als Symptom des Neoliberalismus

Der Zustand der Dauerkrise wird von Markus Scholz als Symptom der neoliberal geprägten, modernen westlichen Gesellschaft verstanden. Menschen werden zunehmend zu Objekten, während Märkte als Subjekte betrachtet werden. Bei dieser Subjekt-Objekt-Verkehrung verliert der Mensch an Einfluss und Kontrolle. Die Gesellschaft findet sich in einem Gefühlszustand kollektiver Ohnmacht wieder. Dieser Zustand nährt die Anfälligkeit für Verschwörungsmythen und macht einfache Antworten auf komplexe Problemstellungen so attraktiv.

Für Natascha Strobl ist dieser Gefühlszustand absurd, denn es wird eine mögliche Rückkehr in einen „Vor-Covid-19- Zustand“ suggeriert. Dabei bildet diese Normalität die Basis für den aktuellen Dauerkrisenmodus. Aus ihrer Sicht wäre es pragmatischer über andere, bessere Systeme nachzudenken.

Vermittlung und Verteidigung als Beiträge der Wissenschaft

An dieser Stelle wies Thomas Beschorner darauf hin, dass bereits Kant die Aufklärung als niemals abgeschlossen, sondern als andauernder Prozess verstanden hat. Und die Vernunft ist das Instrument der voranschreitenden Aufklärung. Es stellt sich laut Beschorner die Frage, ob die Grenzen der Vernunft angesichts des „verschwommenen Diskurs“ erreicht ist. Denn Menschen liegen oft Irrtümern auf: große Ereignisse müssen große Ursachen haben und die Wahrnehmung des Mythos, der ein Ereignis begleitet wird stärker wahrgenommen, als die Details, die zum Ereignis selbst geführt haben. Außerdem haben Menschen tendenziell ein höheres Vertrauen in persönliche Informationen aus ihrem bekannten Umfeld (z.B. Telegram), als in abstrakte wissenschaftlichen Studien.

Dazu hält Markus Scholz fest, dass alle Menschen einem gewissen Maß an Beeinflussbarkeit unterliegen. Diese wird unter anderem durch Ausbildung und Status bestimmt. Scholz versteht das neoliberale Programm als eine Art Gegenaufklärung. Denn in einem durch die Zwänge des Markes gekennzeichneten Lebens hilft die Emotion, sich wieder in Bewegung zu setzen. In diesem Zusammenhang kommt den Medien eine besondere Rolle als Übersetzer der wissenschaftlichen Informationen für die breite Öffentlichkeit zu. Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft verstärkt wahrnehmen. Dazu gehört einerseits die breite Öffentlichkeit zielgruppengerecht zu informieren und andererseits den wissenschaftlichen Freiraum zu verteidigen, um notwendige Ideen und Innovationen vorantreiben zu können.

Demokratie und Gespräche als Wege aus der Krise

Auch in der anschließenden regen Diskussion mit dem Publikum wurde klar, dass es keine Patentlösung zur Bewältigung der anstehenden Dauerkrise geben kann. Natascha Strobl appellierte, die Demokratie zu verteidigen und demokratische Krisenlösungen zu finden. Sie hob hervor, dass es Aufgabe der Politik ist, im Sinne der Menschen zu arbeiten. Thomas Beschorner verwies auf neue Formen der demokratischen Beteiligung wie z.B. Bürgerräte oder journalistische Experimente wie „Österreich spricht“. Dabei treffen sich Menschen mit unterschiedlichen Meinungen und kommen wieder ins Gespräch. Auf die Möglichkeit der Versöhnung bei verhärteten Fronten angesprochen, bemüht Beschorner zum Abschluss eine Analogie aus der Popmusik: Verstehen, vergessen, verzeihen.